Selbsthilferecht des unmittelbaren Besitzers
Selbsthilferecht des unmittelbaren Besitzers
Veröffentlicht am Oktober 21, 2021

Das Selbsthilferecht spielt immer wieder einmal eine Rolle in der anwaltlichen Praxis. Das Gesetz räumt vertraglich miteinander verbundenen Parteien das Recht ein, sich im Falle vertragswidrigen Verhaltens der jeweils anderen Partei in den Bahnen justizförmlicher Verfahren eine Rechtsverletzung geltend zu machen, um gerichtliche Hilfe in Anspruch nehmen zu können. Doch die Mühlen der Justiz mahlen langsam und oft ist sofortiges Einschreiten geboten, um eine Rechtsverletzung, mitsamt daraus erwachsenden mitunter irreversiblen Nachteilen, abwehren zu können.

Eine solche Situation lag etwa einem vor dem LG Hamburg ausgetragenen Streit (LG Hamburg, Az.: 333 S 3/11 – Teilurteil vom 01.03.2012) zugrunde, in dem es zu entscheiden galt, ob der Vermieter einer im Parterre liegenden Wohnung mitsamt angrenzender Gartenfläche bei Bestehen des Mietverhältnisses zur Umgestaltung der Gartenfläche berechtigt ist. Die Mieterin entschied sich dazu die im Garten stattfindenden Neugestaltungsarbeiten zu dulden und erst anschließend klageweise gegen den Vermieter vorzugehen. Das Gericht entschied zugunsten der Mieterin und räumte dieser umfassende und den Vermieter ausschließende Nutzungsrechte an der nunmehr bereits umgestalteten Gartenfläche ein.

Nicht Teil der Entscheidung, aber durchaus von Interesse ist hingegen die Frage, ob und wie die Mieterin bereits während der Ausführung der Gestaltungsarbeiten gegen den Vermieter vorgehen kann und insbesondere, ob sie hierzu gegen den Vermieter gerichtete Gewalt aus üben darf. Mit dem Thema Selbsthilferecht des unmittelbaren Besitzers beschäftigt sich dieser Beitrag.

Die verbotene Eigenmacht als Dreh- und Angelpunkt beim Selbsthilferecht

Die in § 858 Abs. 1 BGB legaldefinierte sog. verbotene Eigenmacht spielt für die Frage nach den Möglichkeiten der Selbsthilfe der Mieterin eine entscheidende Rolle. Gem. § 858 Abs. 1 BGB übt verbotene Eigenmacht aus, wer dem Besitzer ohne dessen Willen den Besitz entzieht oder ihn im Besitz stört, sofern nicht das Gesetz die Entziehung oder Störung gestattet. Mit „Besitz“ meint die Vorschrift den unmittelbaren Besitz, also die von einem entsprechenden Willen getragene tatsächliche Sachherrschaft über eine Sache. Unmittelbarer Besitzer ist also derjenige, der tatsächlich über die Sache, im konkreten Fall also die im Parterre gelegene Wohnung mitsamt angrenzenden Gartens, verfügen kann. Als Bewohnerin ist die Mieterin unmittelbare Besitzerin, während dem Vermieter trotz dinglicher Berechtigung als sog. mittelbarem Besitzer nur eine nachrangige Besitzposition eingeräumt wird. Führt nun der Vermieter auf der vermieteten Gartenfläche Neugestaltungsarbeiten aus, bedeutet das eine dem Vermieter nicht gestattete Störung des unmittelbaren Besitzes der Mieterin. Er übt somit verbotene Eigenmacht i.S.d. § 858 Abs. 1 BGB aus.

§ 858 Abs. 1 BGB dient als Einfallstor für die Anwendung der §§ 859 ff. BGB, die das grundsätzliche Besitzrechtsverhältnis zwischen der Mieterin als unmittelbarer Besitzerin und dem Vermieter als mittelbarem Besitzer klären. Die §§ 859 ff. BGB räumen dem unmittelbaren Besitzer, der durch verbotene Eigenmacht in seinem Besitz gestört wird, umfassende Rechte zur Selbsthilfe und Besitzschutzansprüche ein.

Die Rechte der Selbsthilfe des § 859 BGB

Von besonderer Bedeutung ist § 859 BGB, der es dem unmittelbaren Besitzer ermöglicht, sich gegen Angriffe auf die Sache, über die er die tatsächliche Sachherrschaft ausübt, unter Einsatz von Gewalt zu wehren. Dieser Schutz gebührt dem unmittelbaren Besitzer unabhängig davon, ob ihm tatsächlich ein Recht zum Besitz zusteht. Das bedeutet im konkreten Fall, dass der Mieterin bei Vorliegen der in § 859 BGB genannten Voraussetzungen die daraus erwachsenden Selbsthilferechte auch dann zustünden, wenn sie etwa wegen Beendigung des Mietverhältnisses nicht mehr zum Besitz an der Wohnung samt Garten berechtigt ist, über diese aber noch die tatsächliche Sachherrschaft ausübt. Die Mieterin könnte sich damit also gegen von außen kommende Störungen, etwa des Vermieters, auch ohne Besitzberechtigung zur Wehr setzen. Das Gesetz behandelt sie insoweit so, als sei sie Eigentümerin.

§ 859 Abs. 1 BGB normiert die sog. Besitzwehr, die im konkreten Fall für die Mieterin bei gerade stattfindenden Neugestaltungsmaßnahmen des Vermieters von Bedeutung ist. Die Anwendung von Gewalt zur Abwehr von Besitzstörungen ist dann gestattet und zieht keine Strafbarkeit oder Schadensersatzpflicht der Mieterin nach sich, wenn ihr unmittelbarer Besitz widerrechtlich beeinträchtigt oder entzogen wird, was, wie bereits gesehen, bei den Neugestaltungsmaßnahmen des Vermieters der Fall ist.

An die Besitzwehr schließt sich die sog. Besitzkehr des § 859 Abs. 2, 3 BGB, die es dem unmittelbaren Besitzer ermöglicht, mit Gewalt gegen die mittels verbotener Eigenmacht erfolgte Entziehung des Besitzes an einer Sache, bzw. an einem Grundstück vorzugehen. Die Gewaltanwendung im Rahmen der Besitzkehr ist allerdings nur in engem zeitlichem Zusammenhang mit der Entziehung möglich („auffrischer Tat betroffen“ in Abs. 2 und „sofort nach der Entziehung“ in Abs. 3). Grund dafür ist das mit der Zeit verblassende Schutzinteresse an dem Besitz des ursprünglichen unmittelbaren Besitzers und des gleichzeitig stärker werdenden Bewahrungsinteresses des neu geschaffenen Besitzes des Besitzstörers. Im konkreten Fall käme eine Anwendung des § 859 Abs. 2, Abs. 3 BGB etwa dann in Betracht, wenn der Vermieter versuchte, unter Ausschluss des Besitzes der Mieterin die gesamte Gartenfläche für seine Neugestaltungsarbeiten in Anspruch zu nehmen und er nicht beabsichtigte, nach Abschluss der Arbeiten der Mieterin ihren Besitz uneingeschränkt wiedereinzuräumen.

Maß der Gewalt bei der Selbsthilfe

In welchem Maße Gewaltmittel durch den unmittelbaren Besitzer zulässigerweise eingesetzt werden dürfen, wird durch das Gesetz nicht ausdrücklich geklärt. Grundsätzlich sind folglich alle Mittel erlaubt. Eine Grenze wird allerdings dann gezogen, wenn die Gewaltanwendung nicht zum Zwecke der Abwehr der Besitzbeeinträchtigung oder -entziehung erfolgt. Ferner ist der unmittelbare Besitzer dazu angehalten, unter mehreren ihm verfügbaren Mitteln stets das mildeste, gleichermaßen wirksame Mittel zur Abwendung der Besitzstörung auszuwählen. Überschreitet er diese Grenze, ist sein Verhalten nicht mehr durch § 859 BGB gedeckt. Er handelt widerrechtlich und ist etwaigen Schadensersatzansprüchen des Störenden in vollem Umfang ausgesetzt.

Schutz der Kontinuität bestehender Besitzpositionen und Wahrung des Rechtsfriedens

Es stellt sich nun die Frage, warum der Mieterin als unmittelbarer Besitzerin trotz möglicherweise nicht mehr bestehenden Mietverhältnisses ein weitreichendes Selbsthilferecht eingeräumt werden, während der Vermieter sich nicht im Wege der aus den §§ 859 ff. BGB erwachsenden Rechte Besitz an der Wohnung trotz bestehender dinglicher Berechtigung (Eigentum) verschaffen kann und auf die Anrufung der Gerichte verwiesen ist.

Die in §§ 859 ff. BGB normierten Selbsthilferechte sollen eigenmächtige Eingriffe Dritter (hier des Vermieters) in die bestehende Besitzstellung (hier der Mieterin) verhindern. Das Interesse des Gesetzes ist auf die Kontinuität bestehender Besitzpositionen und damit zugleich auf die Wahrung des allgemeinen Rechtsfriedens gerichtet. Es soll erreicht werden, dass Dritte zur Durchsetzung ihrer ver
meintlich oder tatsächlich gegenüber dem unmittelbaren Besitzer bestehenden Ansprüche die zuständigen Gerichte in Anspruch nehmen und nicht durch Einsatz ihres „Faustrechts“ eigenmächtig in die Besitzpositionen eingreifen. Nur so kann die Wahrung des staatlichen Gewaltmonopols gewährleistet werden.

Das Selbsthilferecht des unmittelbaren Besitzers in der praktischen Umsetzung

Die eingangs gestellte Frage, ob und wie die Mieterin bereits während der Ausführung der Gestaltungsarbeiten gegen den Vermieter vorgehen kann und ob sie hierzu gegen den Vermieter gerichtete Gewalt ausüben darf, ist zugunsten der Mieterin und im Sinne des kraft Gesetzes hervorgehobenen Schutzes des unmittelbaren Besitzes zu beantworten. Wie gesehen darf die Mieterin Gewalt in erforderlichem Maße gegen den Vermieter selbst dann einsetzen, wenn sie nicht (mehr) zum Besitz an der Mietsache berechtigt ist. Dieses möglicherweise seltsam anmutende Ergebnis rechtfertigt sich durch das Interesse an der Bewahrung bestehenden Besitzes, um das staatliche Gewaltmonopol zu schützen und allumfassenden Rechtsfrieden herzustellen. Die dargestellte Gesetzessystematik lässt sich unproblematisch auf andere Fallkonstellationen übertragen. Die Gerichte entschieden in der Vergangenheit etwa in folgenden Fällen zugunsten des beeinträchtigten unmittelbaren Besitzers:

Unzulässige Vertiefung eines Nachbargrundstücks (BGH, Urt. v. 23. Februar 2001 – V ZR 389/99),Anbohren einer Giebelwand eines Nachbargrundstücks zur Verdübelung einer Abdichtung (AG
Hamm NJW-RR 1997, 1104), Eindringen eines Schwenkarms eines Krans in den Luftraum eines angrenzenden Grundstücks (OLG Karlsruhe NJW-RR 1993, 91), Auswechseln von Schlössern durch den getrennt lebenden Ehegatten und Grundstückseigentümer gegenüber dem alleinbesitzenden Ehegatten und Grundstücksbewohner (LG Münster FamRZ 1999, 1200).

Das Selbsthilferecht – normiert in den §§ 859 ff. BGB – macht deutlich, dass geltendes Recht und Gerechtigkeit im gesellschaftlichen Kontext nicht deckungsgleich sein müssen. Gerade in dem dargestellten Mieterin-Vermieter-Verhältnis kann die erforderliche Beschreitung des Rechtswegs für den Eigentümer insbesondere bei Fehlen eines Besitzrechts der Mieterin eine große Bürde bedeuten. Der da hinterstehende Sinn erschließt sich erst bei genauerem Hinschauen und stellt unter Beweis, dass ein „Blick hinter die Kulissen“ durchaus lohnenswert sein kann. Dennoch sollte nicht in jeder Situation davon ausgegangen werden, dass man vom Selbsthilferecht immer rechtmäßigerweise Gebrauch machen darf.

Ihr Kanzeiteam der Rechtsanwaltskanzlei Rath Uhlmann

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